die elster

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Irgend etwas hatte E aus dem Schlaf gerissen und wie so oft war er dann mechanisch durch die Nacht gelaufen, immer die selbe Strecke, immer mit der selben inneren Unruhe. Orientierunglos aus Gedanken hochschreckend blieb er abrupt stehen. Er stand vor einem Burgtor, was ihn erschreckte, denn er war sich nicht bewusst gewesen, dass eine Burg in seiner unmittelbaren Nachbarschaft existierte. Alles war Menschenleer und das weit offen stehende Tor unbewacht. Der Himmel über ihm war kalt und sternenklar und obgleich er äußerlich sicher wirkte, zögerte er innerlich. War es eine seine inneren Stimmen gewesen, die ihn gerufen und hierher geführt hatte? Oder war es die zermürbende Unsicherheit gewesen, die seit jeher an ihm zerrte? Zweifelsohne war er angekommen, stand dem schweren Tor exakt zugewendet und verharrte regungslos. Und ohne einen initialen Gedanken, ohne jeden Anlass, kippte er ganz leicht nach vorne, hob einen Fuß und wie ein langsam und in absoluter Windstille fallender Flaum durchschritt E das Tor, das sich lautlos und geschmeidig hinter ihm schloss. Das innere der Burg war nur spärlich mit qualmenden Petroleumlampen beleuchtet und seine Schritte auf hartem Boden wurden vom Mauerwerk hin und her geworfen. Mehr durch etwas an gesogen, als durch eigenen Antrieb, bewegte er sich durch ein labyrinthtisches Gewimmel von Sälen und Gängen, bis er nach langem Herumirren in einem Ballsaal eintrat und schon aus weiter Ferne erkannte, was ihn anzog. Er schritt geradewegs auf einen mannshohen, schweren Kristallspiegel zu, der, einer Sonne ähnelnd, in der Mitte ein Oval und aussen herum, spiraliert zahlreiche, silbergefasste Strahlen zeigte. Aus seinem Zentrum schien ein komplexer Ton, gleich einem Chor, heraus zu dringen, der vom Wesen her rührend rein und schön war. Als E sich bis auf ein paar Schritte genähert hatte und sein Bild den Spiegel vom Scheitel bis zur Sole ausfüllte, blieb er stehen. Die ihm entgegenquellende Wolke aus weichem Klang umschmeichelte ihn wie eine flauschige Decke. E blickte regungslos in sein eigenes, fahles Gesicht, seine Schritte verhallten und die Welt erstarrte. Nur noch sein Brustkorb hob und senkte sich im Einklang mit dem atmenden Chor. Lange stand er so da. So lange bis seine Wahrnehmung zusammen schmolz und er gleichsam Blind und Taub zu taumeln begann, als plötzlich eine Stimme zu ihm sprach. Eine unbekannte innere Stimme, glasklar, ihm irgendwie bekannt vorkommend, weiblich, vertrauenserweckend und warm. „Alles wird gut! Du bist nicht verurteilt. Das sind alles nur Phantasien und Wahnvorstellungen von Dir. Die Bedrohung ist nicht real! Du bist nicht verurteilt!“ Eine lange Stille folgte, bis E bemerkte, dass er mit aufgerissenen Augen da stand, ohne etwas zu sehen. Er konnte nicht einmal feststellen, ob es hell oder dunkel war. Und erst als sein Kopf einen kleinen, seitlichen Ruck machte, kehrte das Bild zurück und er stand wieder vor dem Sonnenspiegel, nur deutlich näher als vorher, so dass sein durch den Schrecken anschwellender Atem am Glas des Spiegels kondensierte und er aus einem Gefühl der Bedrängnis heraus rückwärts schreitend Abstand nahm. Der Spiegel hatte jede Anziehungskraft verloren. E sah über seine Schulter, drehte sich im gehen um und lief weiter, hallenden Schrittes weg vom Spiegel, egal wohin, nur einfach weg. In dem Gewirr aus leeren Gängen, Räumen und Sälen lief er scheinbar willkürlich herum, obgleich er bei jeder Abzweigung eine eindeutige Präferenz für den einen oder eben anderen Weg hatte. Ohne zu wissen wohin er lief, war er sich sicher den Weg zu kennen. Irgendetwas führte ihn. Seine Gedanken kreisten dabei um das, was er vor dem Spiegel vernommen hatte. Er war verwirrt. Suggerierte ihm die Stimme doch, dass er sich als verurteilt wahrnahm, was nicht der Fall war. Im Gegenteil, er suchte lange und angestrengt nach Erinnerungen von Situationen, in denen er einmal als verurteilt hätte gelten können, doch nichts… er wurde nicht fündig. Er war nie verurteilt worden, von niemandem. Und falls doch, so hatte er zumindest keine Erinnerung daran. Was ihn aber noch mehr verunsicherte war das Gefühl, die beruhigenden Worte der Stimme dankend annehmen zu wollen, ja annehmen zu müssen. Wie konnte er etwas annehmen, das Voraussetzungen beinhaltete, die gar nicht zu trafen? Wie konnte er sich beruhigen lassen, wo jeder Anlass einer Beunruhigung fehlte? Er war weder verurteilt, noch fühlte er sich danach! Und er hatte auch keine Wahnvorstellungen diesbezüglich. Eine Verurteilung findet statt, wenn ein soziales Gebilde ihren Konsens über die Missbilligung einer Handlung eines ihm zugehörigen Individuum kommuniziert. E war ein zurückgezogener Mensch, der ein ruhiges Leben in Tolleranz und Distanz zu seinen Mitmenschen führte. Konflikte gab es so gut wie nie. Doch jetzt, nachdem der Spiegel ihm deutlich und glaubhaft vermittelt hatte, dass er nichts zu befürchten hatte, weil er gar nicht verurteilt sei, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er war wie befreit von einer Last, die ihn schon lange zu erdrücken drohte. Die Erleichterung ist real, dachte E, schnellen Schrittes und riss gerade noch rechtzeitig die Hände hoch, um nicht ungedämpft gegen sich selbst zu prallen. Erschrocken und laut atmend blickte er in seine eigenen Augen. Er stand verdoppelt im Zentrum eines gewaltigen, kreisrunden Saales mit ausgekleidet schwerem, marmornem Ornament, der in seiner Mitte von einem perfekten Spiegel halbiert wurde, so dass die verblüffend glaubhafte Illusion entstand, E stünde in einem runden Saal seinem eigenen Doppelgänger gegenüber. Ein tiefes Brummen lag wie Nebel am Boden. Er verstand sofort, dass der Raum in Wirklichkeit nur halbrund war und erst der nahtlose, vom Boden bis zur Decke reichende Spiegel den Eindruck eines kreisrunden Raumes erzeugte. Doch wenn er die Nahtstelle suchte, an der Spiegel und Parkett aufeinander traten, um die Illusion zu entzaubern, wurde er nicht fündig. Der Spiegel war perfekt und widererwartend lauwarm. Dazu unnatürlich glatt, so als erzeuge er bei Berührung keinerlei Reibung. So ein Material hatte E noch niemals befühlt. Es dauerte eine Weile bis er seiner eigenen Wahrnehmung vertraute und glaubte was er fühlte. Als er mit seinen Fingerkuppen die Kante zwischen Spiegel und Boden nachfuhr, wurde ihm Schwindlig. Ihm war, als würde er visuell etwas bedrohliches fixieren, dass er auch mit faustgeballter Konzentration nicht identifiziert bekam. Als würde dessen Wesen sich dem schmalen Spektrum seiner verfügbaren Kategorisierungsmöglichkeiten entziehen. Wie ein Etwas aus einer fremdartigen Welt, das in Raum und Zeit versetzt, Zeuge eines unerwünschten Beobachters wird und sich nicht zu erkennen gibt. E trat zurück. Er hob die Hände, spreizte die Finger und betrachtete seine Handflächen. Dann führte er die beiden Zeigefinger exakt zusammen, so dass ein Fingerabdruck dem anderen präzise auflag. So neigte er den Kopf und glitt zu Boden, fiel auf die Knie und presste seine gepaarten Zeigefinger mit Kraft auf das Parkett und fuhr eine gerade Linie mehrmals von ihm weg und wieder zu ihm zurück. Währenddessen fühlte er in sich hinein. Dann sprang er mit einem Satz zurück zur Spiegelwand und presste einen Zeigefinger erneut in die Kante zwischen Spiegel und Boden und bewegte den Finger an der Kante entlang hin und her. „Das gleiche Gefühl!“, flüsterte er. E war überzeugt, das was er hier berührte kein Spiegel war – er berührte sich selbst. Auf eine unerklärliche Weise war er doppelt hier und berührte seine eigene Hand. Da sagte eine Stimme „Die Elster!“. Es war die gleiche glasklare, innere Stimme, die E vor dem Sonnenspiegel gehört hatte, nur klang sie nicht mehr wohlwollend und beruhigend, sondern scharf und bestimmend! Das Brummen begann zu wabern und E schossen Bilder durch den Kopf. Lichtes Unterholz, ein Pfeil, einige Kinder, ein Vogel, ein Stein… Jetzt erinnerte er sich. Er hatte als Kind einmal Jäger und Sammler gespielt und war mit selbst gebastelten Bogen zusammen mit Kindern aus seinem Hof in den Laubwald hinter den Feldern gelaufen. Gleich bei einem der ersten Versuche traf er einen Vogel der hoch auf einem Ast saß und als dieser kreischend vor seinen Füßen zappelte, war nicht E es, der den Vogel mit einem großen Stein erlöste, er konnte es nicht, es war sein älterer Freund Sebastian gewesen, der bereits Erfahrung mit dem töten von Fischen hatte. Und obwohl ihn Damals niemand dafür zur Rechenschaft gezogen hatte, Kinder vergessen schnell, blieb das schreckliche Gefühl dieses Moments doch in seinen Knochen stecken und wuchs über die Jahre zu seinem ständigen Begleiter, der ihn hart und unruhig werden ließ. „Danke!“ flüsterte E impulsiv, ohne zu wissen, wie er das meinte, oder mit wem er redete und legte sich erschöpft auf die Seite und hörte dem Brummen zu, dass in Wellen von den Wänden prallte und schloss die Augen. Stunden verstrichen. Irgendwann schlief er wohl ein. Es sollte ein langer und befreiender Schlaf werden, ein Schlaf, nach dem er sich so lange gesehnt hatte.


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