der ungeteilte raum

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Es geschah an einem Freitagabend. Henrik befand sich auf dem Heimweg, er hatte eine anstrengende Woche im neuen Büro überstanden und wollte nur noch schnell ein paar Besorgungen machen, als ihm in einem Einkaufszentrum ein kleiner, Strohblonder junge in den Weg trat und ihn abrupt zum stehen brachte. Mit ernster Miene streckte der Kleine Henrik seine Hand entgegen und sagte mit großer Entschlossenheit „mitkommen!“. Henrik griff ohne zu zögern die Hand des kleinen, der fest zupackte und ihn im Laufschritt durch die Menschenmenge zerrte. Henrik war so verdutzt von der Kraft, die von dem kleinen Jungen ausging, und so beschäftigt damit, gebückt wie er lief, niemanden um zu rämpeln, dass er bevor er auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, schon durch ein paar Türen auf einen merkwürdig geformten Spiegel zu lief, der ihn je näher er ihm kam umso stärker an sog, so dass er mit ganzer Kraft hinein sprang. Doch statt dem erwarteten, schmerzhaften Aufschlag spaltete sich die Welt in ihre Einzelteile, sein Körper und alles um ihn zerbarst zu weißem Pulver, das scheinbar magnetisch, sich in Bruchteilen von Sekunden zu einer neuen Ordnung zusammensetzte. Es war der blitzschnelle Übergang zweier universeller Ordnungen und jedes Staubkörnchen schien seinen Platz zu kennen, schien zielstrebig um sich herum kraftvoll Struktur zu schaffen, um auf unfassbar elegante Art und Weise aus unendlichem Chaos, kristalline Symmetrie und vollendete Schönheit zu zaubern. Und als wäre nichts gewesen, fand sich Henrik plötzlich in einer gigantischen Halle wieder. Das verrückte war, dass er in vollem Bewusstsein, was soeben geschehen war, das Gefühl hatte, sich hier ganz und gar eingelebt zu haben. Als wäre hier sein zu Hause, seine Heimat, dieser Moment völlig normal und als wäre alles, was ihn ausmacht an seinem Platz. Gemütlich sitzend, sah er sich um. Stühle. Überall dieselben Stühle. Die Halle reichte bis über den Horizont. Die Decke, falls das eine Decke war, lag Kilometer hoch. Vor ihm stand eine Art Sägewerk und nebenan lag ein Waldrand. Es duftete nach frischem Holz. Überall liefen geschäftige Leute herum, die aussahen wie Baumarktmitarbeiter, mit praktischen Latzhosen. Henrik fühlte sich wunderbar. Hier war es hell und gemütlich. Seine Hand befühlte das weiche Holz seiner Stuhllehne. Er saß bequem und sicher auf einem der Millionen Stühle, die hier offensichtlich gefertigt wurden. Er musste sich in einer futuristischen Fabrikhalle befinden, mutmaßte er. Da kam auch schon einer der Mitarbeiter auf ihn zu, reichte Henrik auf eine sonderbare Art die Hand, die ihn dazu brachte aus seiner ungemein bequemen Sitzhaltung aufzustehen. Der Mitarbeiter rückte seinen Helm zurecht, wischte sich eine Schweißperle von der Stirn und wirkte freundlich und hilfsbereit. Ob man denn etwas bräuchte? Das sei ja schon etwas eigenartig. Ob es einem gut gehe? Man könnte problemlos einen Arbeitsanzug besorgen. Nein, das würde gar keine Umstände machen. Und dann kamen sie auch schon von allen Seiten auf Henrik zu und halfen ihm in seinen neuen Arbeitsanzug, erklärten ihm geduldig wie seine Ausrüstung funktionierte, führten ihn durch seinen Arbeitsplatz, zeigten ihm sein Bett, die Kantine und die Toiletten. Es waren keine drei Stunden vergangen, als sich Henrik dabei zusah, wie er an einer komplizierten Maschine mit wenigen Handgriffen in Windeseile einen Stuhl nach dem anderen fertigte, die sein Kollege Herrmann, auf Lastwagen lud. Hier war also sein Platz. Das begriff er sofort. Und es gab daran auch nicht den geringsten Zweifel. Das Essen war gut, er schlief gut und viel, arbeitete den ganzen Tag und wurde getragen aus einer Wolke aus purer Nützlichkeit. Hier machte alles Sinn. Jeder kannte seinen Platz. Jeder Handgriff saß. Keiner beschwerte sich. Und vor allem… all diese wunderbaren Stühle! Ja, es machte ein gutes Gefühl produktiv, eingebunden und aufgehoben zu sein. Und Henrik war sich absolut sicher, hier, glücklich und zufrieden den Rest seines Lebens zu verbringen, als er eines Nachts aufwachte und sich seine Gedanken immerzu um das gleiche Wort drehten. „Entsorgungspresse“. Dieses Wort machte irgendwie keinen Sinn. Er hatte es schon oft gehört. Immer wieder erwähnten Kollegen von ihm diese Entsorgungspresse, doch er konnte sie sich nicht vorstellen. Was wurde entsorgt? Was wurde gepresst? Und als er am nächsten Morgen seinem Vorgesetzten vertrauensvoll sein Herz ausschüttete, wurde er natürlich sofort dorthin versetzt. Zur Presse. Man müsse lieben was man tue und jeder solle sich selbst finden und dort einbringen, wo er der Gemeinschaft höchsten Nutzen bringe. Das leuchtete Henrik ein. Die Fahrt dauerte keine zwanzig Minuten und die Einweisung in seine neue Arbeit ging ähnlich schnell wie beim ersten Mal und bestand darin, Stühle, die von einem Lastwagen angeliefert wurden entgegenzunehmen und in eine Pressvorrichtung zu geben. Daraus würde Humus gemacht, der dem Waldboden untergemischt werden würde. Aber als er einen Kollegen entrüstet befragte, welchen Sinn es machte Stühle erst mühsam herzustellen, um sie anschließend zu Humus zu verarbeiten, nahm ihn plötzlich ein kleiner, Strohblonder Junge bei der Hand, und führte ihn bestimmt durch ein paar Türen in einen Raum mit einem merkwürdig geformten Spiegel, der ihn unwiderstehlich anzog. Zwei universelle Ordnungen gingen blitzschnell ineinander über. Sekunden später fand sich Henrik in einem langen Gang wieder. Lang war eigentlich untertrieben, dessen Ende schien sich in der Unendlichkeit zu verlieren. Alles war in dunkelrotes Licht getaucht, die Wände waren mit Plüsch überzogen und alle paar Meter gab es Türen, auf denen fremdartiges Symbolwirrwarr heftete. Hin und wieder öffnete sich eine der Türen und junge Leute, die nur mit einem Handtuch bekleidet waren, als kämen sie gerade aus der Sauna, liefen ein Stück, um hinter einer anderen Türe zu verschwinden. Henrik war das unheimlich. Er lief eine Weile und kam an eine Kreuzung, an der zwei dieser unendlich langen Plüschgänge aufeinander trafen. Er bog ab und lief ein paar Stunden ziellos herum. Jede siebzehnte Türe hob sich farblich von den anderen ab. Keiner der seltsamen Saunabesucher sprach ihn an. Und obwohl Henrik keinerlei Bedürfnis verspürte durch eine der Türen zu gehen, befremdliche Geräusche schienen daraus zu dringen, gab er sich einen Ruck, öffnete eine und sah hinein. Darin hatten gerade zwei Saunabesucher Sex. Peinlich berührt schloss er leise die Türe und irrte weiter durch die Gänge. Ab und zu öffnete er wieder eine der Türen und fand überall das gleiche Bild. In allen Räumen hatten Saunabesucher lautstarken Sex. Nur nicht in den Räumen hinter den siebzehnten Türen. Die waren etwas größer und es standen Podeste darin, wie man sie bei Siegerehrungen bei Olympiaden verwendet. Dort ließ er sich eine Weile nieder und schlief ein. Geweckt wurde er von einem abrupten Ansturm von Saunabesuchern, die förmlich den Saal fluteten und alle versammelt, in einem bizarren Ritual offenbar eine Art Siegerehrung des potentesten Pärchens vollzogen, die kreischend eine Glaskugel überreicht bekamen und sich anschließend vor jubelnder Menge gegenseitig ihre Geschlechtsteile mit Leuchtfarbe einrieben. Dann ertönte ein Geräusch, was Henrik an den Gong aus seiner Volksschule erinnerte und der Saal leerte sich so schnell, wie er sich gefüllt hatte und ein Strohblonder Junge streckte ihm seine Hand entgegen. Zwei universelle Ordnungen gingen blitzschnell ineinander über und Henrik fand sich wieder in einer unendlichen Krankenhauswelt, in der alle Menschen zugleich weiß uniformierte Ärzte als auch Hypochonder waren. Viele davon befanden sich paarweise eingesperrt in mobilen Gondeln, der Therapeut saß, der Patient lag und auf Knopfdruck konnten sie ihre Rollen und Körperhaltungen austauschen, so dass sie sich bis in alle Ewigkeit in einem Ping-Pong-Verfahren wechselseitig therapierten. Und als einer von Henriks Patienten während eines Hirnchirurgischen Eingriffs aus der Narkose aufwachte, einfach so aufstand und ihn mit Nachdruck aufforderte sich seine Schädeldecke aufzusägen, griff ein kleiner Junge nach seiner Hand und zwei Ordnungen gingen blitzartig ineinander über und Henrik war auf einmal der weiseste aller Affen, die im Kreis sitzend auf den fortschrittlichsten aller Supercomputer einredeten, um ihn davon zu Überzeugen, innerhalb eines zweiten, baugleichen Supercomputers, ein Pan-Intelligentes Wesen frei zu schalten, dass nicht nur die letzten Probleme der Welt lösen sollte, sondern auch diese ungenügende Welt schlagartig auf eine Metaebene transformieren werde, um  endlich und endgültig die Primitivität von biologischen Intelligenzen zu überwinden und mit einem sauberen Neuanfang Punkte im innergalaktischen Ranking zu sammeln, um der unausweichlichen Vernichtung doch noch auszuweichen. Billionen… einfach alle Augenpaare der Welt, waren mittels Fernsehübertragung auf den Kreis der Affen gerichtet und alle Affenaugenpaare waren wiederum auf Henrik gerichtet. Henrik zitterte. Die Nerven zerfetzende Stille war unerträglich, seine innere Spannung mehr als schmerzhaft. Es lag nun in seiner Verantwortung alles, die Welt und sich selbst zu beenden, um etwas neuem, höherem Platz zu machen und er wusste er würde es tun. Er war der einzige, der das konnte. Und als er mit einem resignierenden Senken des Kopfes, das alles in Gang setzende und absolut irreversible Zeichen zur Machtübergabe gab, wurde Henriks Welt durch und durch leer und schwarz. Nur ein kleiner, Strohblonder Junge schwebte noch über ihm und sprach: „Versuche nicht den Raum zu teilen und lebe alles was du bist. Wer Du bist, weißt du selbst am besten. Und wenn wieder jemand zu dir kommt, um dich für deinen nützlichsten Teil von deinem Rest zu trennen sage ihm…“ Zwei Ordnungen gingen blitzartig ineinander über, es wurde hell und Henrik sagte: „Neee, lass ma’… iss mir jetzt nich’ nach!“ Und der fremde Mann im schmutzigen Fellumhang runzelte die Stirne, grunzte verächtlich und lief zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Henrik saß vergnügt, zusammen mit seiner Sippe am Lagerfeuer und grillte sich ein schönes Stück des Hirschen, den die Männer heute mit viel Mühe mit Speeren erlegt, transportiert und Feuersteinen zerlegt hatten. Die Frauen sangen und hatten einen großen Topf Beeren gebracht und die Kinder jauchzten und tollten am Fluss. Es wurde Herbst und Henrik hatte sich noch niemals in seinem Leben so echt gefühlt. Es war ein einfaches Leben. Ein Leben, in dem Hunger und Durst, Sonne und Kälte und vor allem die Gemeinschaft den Ton angab. Zum ersten Mal war er ganz im Reinen mit sich und der Welt. Manchmal dachte er noch an sein altes Leben im neuen Büro. Doch zurück wollte er auf keinen Fall und aus wahrscheinlich diesem Grund sah er den Strohblonden Jungen auch nie wieder. Die Ordnung der Welt hatte sich gefunden.

 


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